Hessisches Finanzgericht – Az.: 3 K 911/11 – Gerichtsbescheid vom 29.02.2012
Der Bescheid vom 08.09.2010 über die Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.03.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs für den Zeitraum Januar 2008 bis August 2010 betreffend das Kind I unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist hinsichtlich der erstattungsfähigen Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Bescheid über die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung wirksam bekannt gegeben worden ist mit der Folge, dass eine Neufestsetzung von Kindergeld für den von der Aufhebung betroffenen Zeitraum ausgeschlossen ist. Dem Rechtsstreit liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die Klägerin erhielt für ihren Sohn I (geboren am …1985) seit dem Jahr 2001 regelmäßig Kindergeld. Nachdem I das 18. Lebensjahr vollendet hatte, forderte die Beklagte (die Familienkasse) die Klägerin wiederholt auf, über die (schulische bzw. berufliche) Ausbildung ihres Sohnes entsprechende Nachweise vorzulegen. Die Klägerin kam diesen Aufforderungen zunächst auch regelmäßig nach. Zuletzt legte sie am 26.08.2008 eine Bescheinigung der …-Schule in … (berufsbildende Schulen des Kreises …) vor, nach der I die dortige Schule voraussichtlich bis zum 30.06.2009 besuchen sollte.
Mit Bescheid vom 09.09.2009 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab dem Monat September 2009 auf. Zur Begründung gab sie an, I habe die Schulausbildung beendet. Dem Bescheid fügte sie verschiedene Merkblätter über die (möglichen) Voraussetzungen eines weiteren Kindergeldbezugs sowie einen Erklärungsvordruck über die Einkünfte und Bezüge (des Kindes) bei. Zu Letzterem forderte sie die Klägerin auf, den Vordruck auszufüllen und mit den erforderlichen Nachweisen wieder einzureichen. Dieser Aufforderung kam die Klägerin in der Folgezeit nicht nach. Daraufhin gab die Familienkasse der Klägerin mit Schreiben vom 06.05.2010 gemäß § 91 der Abgabenordnung (AO) – sinngemäß – den folgenden Hinweis: Die Klägerin habe für die Zeit von Januar 2008 bis August 2009 Kindergeld in Höhe von insgesamt 3.160,00 € erhalten. Trotz entsprechender Aufforderung habe die Klägerin keine Auskünfte darüber gegeben, welche Einkünfte und Bezüge ihr Sohn I während des genannten Zeitraums gehabt habe. Deshalb seien die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Kindergeldanspruch nicht mehr nachgewiesen. Auch auf diesen Hinweis reagierte die Klägerin zunächst nicht.
Unter dem Datum vom 09.06.2010 fertigte die bei der Familienkasse zuständige Mitarbeiterin B einen Bescheid, durch den die Kindergeldfestsetzung für das Kind I gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab dem Monat Januar 2008 aufgehoben und das für den Zeitraum von Januar 2008 bis August 2009 ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 3.260,00 € (für die Monate Januar bis Dezember 2008: 1.848,00 €, für die Monate Januar bis August 2009: 1.312,00 €, einmalig bezahlter Kinderbonus: 100,00 €) zurückgefordert werden sollte. Unter demselben Datum erließ sie eine entsprechende Kassenanordnung. Der dazugehörige Computerausdruck enthielt unter anderem folgende Eintragungen: Fälligkeitstermin 26.06.2010, Betrag 3.260,00 €, Beitreibung durch Hauptzollamt.
Unter dem Datum vom 20.06.2010 füllte die Klägerin den Vordruck über die Erklärung zu den Einkünften und Bezügen eines über 18 Jahre alten Kindes (hier für die Jahre 2008 bis 2009) aus und reichte diesen in der Folgezeit bei der Familienkasse ein. Der Vordruck erhielt dort den Eingangsstempel vom 20.07.2010. Die Familienkasse wertete das Einreichen des Vordrucks im Sinne eines neuen Kindergeldantrags. Hieran anknüpfend erließ sie am 08.09.2010 einen Bescheid, durch den sie die erneute Festsetzung von Kindergeld (für zurückliegende Zeiträume) ablehnte. Zur Begründung führte sie unter anderem aus: Mit Bescheid vom 09.06.2010 sei die Kindergeldfestsetzung aufgehoben und das für den Zeitraum Januar 2008 bis August 2009 bereits ausgezahlte Kindergeld zurückgefordert worden. Eine Änderung des vorgenannten Bescheids sei nicht möglich. Erst nach Ablauf der Einspruchsfrist sei die Klägerin ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen. Frühestens mit Wirkung ab dem Monat September 2010 könne wieder Kindergeld festgesetzt werden.
Mit Schreiben vom 05.10.2010 wandte sich die Klägerin an die Familienkasse. Hierin führte sie – sinngemäß – im Wesentlichen Folgendes aus: Zwischen ihr und der Familienkasse sei es zu einem Missverständnis gekommen. Sie, die Klägerin, habe keinesfalls die Schreiben der Familienkasse ignoriert. Vielmehr habe sie in der Zeit von Juli 2008 bis August 2009 dreimal bei der Familienkasse angerufen. Zunächst sei es um Bescheinigungen gegangen, die ihr Sohn I per E-Mail übermittelt habe. Im Mai 2009 habe sie dann mitgeteilt, dass I seine schulische Ausbildung beendet habe. Schließlich habe sie im September 2009 mitgeteilt, I beziehe „Hartz IV“ und deshalb solle kein Kindergeld mehr überwiesen werden. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass sie alle Mitteilungen schriftlich habe machen müssen. Sie bitte darum, die Rückforderung von Kindergeld zurückzunehmen. Es handele sich um eine „Kindergeldsumme“ von 3.260,00 €. Die Familienkasse teilte der Klägerin daraufhin durch Schreiben vom 07.10.2010 mit, sie behandele das vorgenannte Schreiben als Einspruch gegen den Bescheid vom 08.09.2010.
Zur weiteren Begründung des Einspruchs meldeten sich die Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 28.02.2011 bei der Familienkasse. Hierzu führten sie unter anderem wörtlich aus: „Unsere Mandantin hat uns Ihr Schreiben vom 08.09.2010 sowie weiteren Schriftverkehr in obiger Sache vorgelegt. Sie haben das Kindergeld für I mit Bescheid vom 09.06.2010 gekürzt und für den Zeitraum Januar 2008 bis August 2009 von unserer Mandantin zurückgefordert. Gegen Ihren entsprechenden Bescheid vom 09.06.2010 hat unsere Mandantin Widerspruch eingelegt.“ In dem genannten Schreiben stellten die Prozessbevollmächtigten auch den Antrag, ihnen Einsicht in die Kindergeldakten zu gewähren. Die Akteneinsicht wurde ihnen in der Folgezeit durch die Familienkasse gewährt.
Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie unter anderem aus: Der Aufhebungsbescheid vom 09.06.2010 sei bestandskräftig geworden und entfalte deshalb Bindungswirkung bis zum Ende des Monats, in dem er bekannt gegeben worden sei, also einschließlich bis Juni 2010. Die Voraussetzungen, unter denen die Bestandskraft rückwirkend durchbrochen werden könne, seien nicht gegeben. Da somit bereits aus formell-rechtlichen Gründen ein Kindergeldanspruch für die Zeit vor dem Monat Juli 2010 ausgeschlossen sei, brauchten die materiell-rechtlichen Voraussetzungen nicht geprüft zu werden (Einspruchsentscheidung vom 09.03.2011).
Die Prozessbevollmächtigten haben mit Schreiben vom 05.04.2011 im Namen der Klägerin Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 08.09.2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 09.03.2011 erhoben. Zu deren Begründung haben sie wörtlich unter anderem ausgeführt: „Die Beklagte hat die Gewährung des Kindergeldes für I mit Bescheid vom 09.06.2010 für den Zeitraum ab Januar 2008 aufgehoben und den Kindergeldbetrag von 3.260,00 € zurückgefordert und der Klägerin unter gleichem Datum eine Zahlungsaufforderung über den Betrag gesandt. Jedoch hat die Klägerin den Bescheid selbst nicht erhalten. … Sie hat lediglich die Zahlungsaufforderung vom 09.06.2010 bekommen, den sie ohne den Bescheid nicht einordnen konnte. Nach telefonischer Rücksprache mit der Beklagten hat die Klägerin mit Eingangsdatum der Beklagten vom 20.07.2010 erneut einen Kindergeldantrag gestellt. … Der Einspruch vom 07.10.2010 wurde nach Bevollmächtigung der Kanzlei der Unterzeichnerin am 28.03.2011 noch ergänzt. … Hierbei ist jedoch zu beachten, dass es sich um den Bescheid vom 08.09.2010 handelt, gegen den die Klägerin Widerspruch eingelegt hat. Wenn im genannten Schreiben vom Bescheid vom 09.06.2010 die Rede ist, so ist damit die Zahlungsaufforderung mit Datum 09.06.2010 gemeint. Nur diese lag der Unterzeichnerin vor. Der eigentliche ablehnende Bescheid vom 09.06.2010 selbst wurde erst aus der Behördenakte zur Kenntnis genommen.“ Im weiteren Verfahren haben die Prozessbevollmächtigten sich zu der Auffassung der Familienkasse geäußert, die Aussage, die Klägerin habe den Bescheid vom 09.06.2010 nicht erhalten, stelle eine Schutzbehauptung dar. Hierzu haben sie im Wesentlichen geltend gemacht, es lägen keine Beweise und auch keine Indizien für die Annahme vor, der Bescheid sei der Klägerin tatsächlich zugegangen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, den Bescheid der Familienkasse vom 08.09.2010 über die Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.03.2011 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs für den Zeitraum Januar 2008 bis August 2010 Kindergeld betreffend das Kind I unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Die Familienkasse beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor: Die Aussage, dass die Klägerin den Bescheid vom 09.06.2010 nicht erhalten habe, sei erstmals durch die Prozessbevollmächtigten in der Klageschrift gemacht worden. Aus dem Ablauf der Geschehnisse, insbesondere aus dem Schreiben vom 05.10.2010, ergebe sich jedoch das Gegenteil. So habe die Klägerin selbst durch dieses Schreiben Einspruch gegen den Bescheid vom 08.09.2010 erhoben. Hierin habe sie zunächst um Verständnis für die Situation gebeten. Dann habe sie den bisherigen Verfahrensablauf aus ihrer Sicht sehr genau geschildert. Insbesondere habe sie viele Telefongespräche genannt, die sie in weit zurückliegende Vergangenheit geführt habe. Dabei habe sie weder zu dem Bescheid vom 09.06.2010 noch zu der Zahlungsaufforderung vom selben Datum etwas gesagt. Insbesondere habe sie nicht zum Ausdruck gebracht, sie habe die Zahlungsaufforderung nicht verstanden, weil ihr dazu ein Bescheid fehle. Des Weiteren habe sie kein Telefongespräch erwähnt, das sie – wie in der Klageschrift geschildert – „nach dem Erhalt der Zahlungsaufforderung ohne Bescheid“ kurz zuvor erhalten haben solle. Insgesamt habe sie in keinster Weise eine Andeutung dahingehend gemacht, der Bescheid vom 09.06.2010, der ja Grundlage für die Entscheidung vom 08.09.2010 gewesen sei, sei ihr nicht zugegangen. Im Übrigen sei der Klägerin damals sehr wohl bewusst gewesen, dass gegen sie eine Forderung der Familienkasse in Höhe von 3.260,00 € existiere. Denn sie habe den Betrag in ihrem Schreiben vom 05.10.2010 auch ausdrücklich genannt. Schließlich habe sie nach dem Erhalt der Zahlungsaufforderung keinen Kontakt mit dem Absender, der Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit, zur Klärung der betreffenden Forderung aufgenommen.
Auf eine entsprechende Anfrage durch das Gericht hat die Familienkasse weiter vorgetragen: Eine Zahlungsaufforderung werde aufgrund der in der betreffenden Kassenanordnung ausgewiesenen Daten automatisch zentral versandt. Bei der zuständigen Stelle in … würden Bescheide, wie auch sonst alle Briefe, in aller Regel nach ihrer Fertigstellung von der jeweils bearbeitenden Personen direkt in den Postausgang gelegt. Die Poststelle der örtlichen Agentur für Arbeit hole die Bescheide bzw. Briefe täglich jeweils zweimal ab. Die Weitergabe an die Poststelle werde regelmäßig auf dem Entwurf des jeweiligen Schreibens von dem Ersteller mit Handzeichen und Datum bestätigt. Es sei allerdings nie auszuschließen, dass ein „Expediervermerk“ auch einmal vergessen werde. Allerdings müsste es in jedem Fall auffallen, wenn ein Schriftstück nicht in den Postausgang verfügt worden sei. Am darauf folgenden Tag würde nämlich die betreffende Kindergeldakte nachsortiert und schließlich wieder in die Registratur eingehängt. Dann würde das Schriftstück aus der Akte herausragen beziehungsweise herausfallen. So würde das Poststück spätestens am nächsten Tag – mit einem entsprechenden Vermerk – abgesandt
Die den Streitfall betreffenden Akten der Familienkasse waren Gegenstand des Verfahrens.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der Ablehnungsbescheid vom 08.09.2010 war aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs entsprechend der von der Klägerin am 20.07.2010 eingereichten Erklärung erneut zu entscheiden.
1. Die Familienkasse hat der Entscheidung, die sie in ihrem Ablehnungsbescheid vom 08.09.2010 getroffen hat, zu Unrecht die Annahme zu Grunde gelegt, der Aufhebungsbescheid vom 09.06.2010 sei der Klägerin nachweislich zugegangen.
Nach § 122 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt (Bescheid), der durch die Post im Inland übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Bescheid nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
Nach der (inzwischen) ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) kann der Nachweis des Zugangs im Sinne der genannten Vorschrift nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises (prima-facie-Beweis) geführt werden. Es gelten vielmehr die allgemeinen Beweisregeln, insbesondere der Indizienbeweis (Urteile vom 14.03.1989 VII R 75/85, BStBl II 1989, 534; vom 29.04.2009 X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, und vom 12.03.2003 X R 17/99, BFH/NV 2003, 1031).
Der Beweis des ersten Anscheins beruht auf allgemeinen Lebenserfahrungen, und zwar in der Art, dass wesensgleiche Ereignisse serienmäßig typisch gleich verlaufen müssen. Dabei handelt es sich typischerweise um Geschehensabläufe, die vom menschlichen Willen unabhängig sind, also gleichsam mechanisch „abrollen“. Vor diesem Hintergrund ist der Nachweis durch Anscheinsbeweis nicht möglich hinsichtlich der Frage, ob ein Schriftstück, das – wie im Streitfall – als einfacher Briefe zur Post gegeben worden ist, dem Adressaten auch tatsächlich zugegangen ist. Im Übrigen kommt es unter normalen Postverhältnissen immer wieder vor, dass abgesandte Briefe den Empfänger nicht erreichen. Allerdings können bestimmte Verhaltensweisen, die der Empfänger längere Zeit nach Absendung des Bescheids an den Tag gelegt hat, im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles berücksichtigt werden. Aufgrund der verschiedenen Indizien muss das Gericht gemäß § 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Tatsache des Zugangs mit so hoher Wahrscheinlichkeit als festgestellt angesehen, das kein vernünftiger Mensch mehr zweifelt (vgl. BFH-Urteil vom 14.03.1989 VII R 75/85, BStBl II 1989, 534; siehe auch Seer Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 96 AO Tz. 66).
Als gewichtiges Indiz für die Annahme des Zugangs ist regelmäßig die Tatsache zu werten, dass der als Empfänger benannte Beteiligte sich mit seiner Behauptung, der betreffende Bescheid sei ihm nicht zugegangen, im Widerspruch zu früheren Äußerungen gesetzt hat (vgl. BFH-Urteile vom 14.01.1992 VII R 112/89, BFH/NV 1992, 365, und vom 03.03.1993 II R 11/90, BFH/NV 1994, 141). Demgegenüber kann ein geeignetes Indiz für den von der Behörde geltend gemachten Zugang nicht allein darin gesehen werden, dass der betroffene Beteiligte sich passiv verhält oder sich zu einzelnen Teilen des fraglichen Geschehensablaufs nicht äußert. So reicht es beispielsweise nicht aus, wenn ein Steuerpflichtiger über den Zeitraum von fünf Jahren mehrfach die Gelegenheit gehabt hat, den Nichtzugang des betreffenden Steuerbescheids geltend zu machen. Auch kann von dem (potentiellen) Empfänger regelmäßig nicht verlangt werden, einen atypischen Geschehensablauf mit substantiierten Tatsachenangaben darzulegen (vgl. BFH-Urteile vom 14.03.1989 VII R 75/85, BStBl II 1989, 534, und vom 15.09.1994 XI R 31/94, BStBl II 1995, 41).
Im Streitfall vermag das Gericht keine Anhaltspunkte für die Annahme zu erkennen, die Klägerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigten hätten sich mit ihrem Vorbringen, der Bescheid vom 09.06.2010 sei nicht zugegangen, zu vorangegangenen Verhaltensweisen in Widerspruch gesetzt. Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist dieses Vorbringen nicht allein durch die Tatsache zu erklären, dass die Prozessbevollmächtigten die verfahrensmäßige Vertretung für die Klägerin übernommen haben. Wenn dies so wäre, dann hätten die Prozessbevollmächtigten die Behauptung über den Nichtzugang des Bescheides bereits im außergerichtlichen Verfahren, etwa in ihrem Schreiben vom 28.02.2011, erheben können. Die Behauptung ist nämlich erst zum Gegenstand des Verfahrens geworden, nachdem die Prozessbevollmächtigten Einsicht in die Kindergeldakten genommen hatten. Erst durch die Akteneinsicht erlangten sie positive Kenntnis von der Tatsache, dass die Familienkasse unter dem Datum vom 09.06.2010 einen Aufhebungsbescheid gefertigt hatte. Wenn sie im Vorfeld der Akteneinsichtnahme (mangels positiver Kenntnis und deswegen möglicherweise aus Gründen der Vorsicht) keine konkrete Aussage zum Zugang des Bescheides gemacht haben, kann dies nicht zum Nachteil der Klägerin gewertet werden.
Die Tatsache, dass die Prozessbevollmächtigten in ihrem Schreiben vom 28.02.2011 den Bescheid vom 09.06.2010 erwähnt haben, kann ebenfalls nicht im Sinne eines widersprüchlichen Verhaltens gedeutet werden. Denn sowohl die Zahlungsaufforderung vom 09.06.2010 als auch der Ablehnungsbescheid vom 08.09.2010 nehmen ausdrücklich Bezug auf den vorgenannten Bescheid. Insofern ist davon auszugehen, dass beide Schriftstücke den Prozessbevollmächtigten vorlagen, als diese ihr Schreiben vom 28.02.2011 verfassten. Die Frage, ob die Prozessbevollmächtigten sich Gedanken über das Wirksamwerden des Bescheides vom 09.06.2010 schon zu dem damaligen Zeitpunkt oder erst bei Erhebung der Klage gemacht haben, mag sich zwar stellen, führt aber im Sinne eines Indizienbeweises nicht weiter.
Entgegen der Auffassung der Familienkasse enthält das Schreiben, das die Klägerin unter dem Datum vom 05.10.2010 an die Familienkasse gerichtet hat, keinerlei Anhaltspunkte, die im Sinne eines Indizes für den hier fraglichen Zugang ausgewertet werden könnten. Die Ausführungen der Klägerin beschäftigen sich zwar mit einer Fülle von Einzelheiten aus dem früheren Verfahrensablauf, beziehen sich jedoch mit keinem Wort auf den Bescheid vom 09.06.2010. Wenn nun die Familienkasse aus dem Fehlen diesbezüglicher Äußerungen irgendwelche Schlussfolgerungen zieht, dann verkennt sie den Grundsatz der Rechtsprechung, dass ein passives Verhalten des betreffenden Beteiligten kein geeignetes Indiz für den geltend gemachten Zugang darstellt. Des Weiteren verkennt sie den Grundsatz, dass von dem angeblichen Empfänger keine substantiierten Tatsachenangaben über einen abweichenden Geschehensablauf verlangt werden können. Soweit die Familienkasse darauf verweist, die Klägerin habe nach dem Erhalt der Zahlungsaufforderung vom 09.06.2010 keinen Kontakt mit der Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit aufgenommen, bezieht sie sich wiederum auf ein passives Verhalten. Mit ihrem Hinweis, die Klägerin habe in dem Schreiben den Forderungsbetrag von 3.260,00 € ausdrücklich genannt, bezeichnet die Familienkasse zwar ein positives Verhalten. Hierbei lässt sie jedoch außer Acht, dass die Klägerin die Kenntnis dieses Sachverhalts aus der Zahlungsaufforderung erlangt haben kann. Auch insofern ist ein widersprüchliches Verhalten nicht zweifelsfrei festzustellen. Folglich spielt auch die Tatsache, dass die Familienkasse in ihrem Hinweisschreiben vom 06.05.2010 einen anderen Kindergeldbetrag genannt hatte, keine Rolle.
Ein geeignetes Indiz für den von der Familienkasse geltend gemachten Zugang ergibt sich ferner nicht aus der Tatsache, dass die Klägerin in ihrem Schreiben vom 05.10.2010 keine Angaben gemacht hat über das Telefongespräch, das nach den Ausführungen der Prozessbevollmächtigten in der Zeit zwischen dem 09.06.2010 (Datum des Aufhebungsbescheides) und dem 20.07.2010 (Eingangsdatum des neuen Kindergeldantrags) stattgefunden haben soll. Auch hier gelten die Grundsätze über den Aussagewert eines passiven Verhaltens sowie über die Substantiierung eines atypischen Geschehensablaufs. Hätte die Klägerin während des vorgenannten Zeitraums gegenüber der Familienkasse in einem Telefongespräch definitiv die Aussage gemacht, sie habe den Bescheid erhalten, und hätte die auf Seiten der Familienkasse beteiligte Person in einer Beweisaufnahme eine solche Aussage zur Überzeugung des Gerichts be-stätigt, dann wäre dies ein sehr gewichtiges Indiz in dem hier fraglichen Sinne. Zu einem solchen (nach den Erfahrungen des erkennenden Einzelrichters durchaus möglichen) Geschehensablauf hat die Familienkasse im bisherigen Verfahren keinerlei Angaben gemacht.
Nicht entscheidungserheblich sind schließlich die Ausführungen der Familienkasse über die Verfahrensabläufe, die bei der Absendung von Schriftstücken und Bescheiden regelmäßig vorkommen. Denn hierbei handelt es sich nicht um irgendwelche vom menschlichen Willen unabhängige und damit mechanisch abrollende Geschehensabläufe im Sinne der Rechtsprechung. Selbst wenn nach der Darstellung der Familienkasse sichergestellt werden könnte, dass der hier fragliche Bescheid den Machtbereich der zuständigen Stelle verlassen hätte, könnte immer noch nicht ausgeschlossen werden, dass die Sendung auf dem Postweg verloren gegangen wäre. Auch insoweit verbleiben Zweifel, die das Gericht daran hindern, sich eine Überzeugung über die von der Familienkasse geltend gemachte Sachverhaltsannahme zu bilden.
2. Das Gericht war aufgrund des vorliegenden Sachantrags nicht gehalten, die Familienkasse zum Erlass einer bestimmten Entscheidung zu verpflichten. Denn die Sache ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht spruchreif.
Ist – wie im vorliegenden Fall – die Ablehnung eines Verwaltungsaktes rechtswidrig und dadurch der Kläger in seinen Rechten verletzt, hat das Gericht nach § 101 Satz 1 FGO die Finanzbehörde zu verpflichten, den begehrten Verwaltungsakt zu erlassen, wenn die Sache spruchreif ist. Ansonsten spricht es nach Satz 2 der Vorschrift die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Der BFH hat die vorstehenden Verfahrensregeln in seinem Urteil vom 02.06.2005 III R 66/04 (BStBl II 2006, 184) auf den Fall angewandt, dass ein Kindergeldberechtigter mit der Klage das Begehren verfolgt, den die Zahlung von Kindergeld ablehnenden Bescheid der Familienkasse aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld auf unbestimmte Zeit zu zahlen. Hierzu hat er ausgeführt: Bei dem vorgenannten Rechtsschutzbegehren handele es sich um eine Verpflichtungsklage, für die nicht die Regeln des § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO (Betragsfestsetzung bei Anfechtungsklage), sondern die Regeln des § 101 FGO (Sachentscheidung bei Verpflichtungsklage) einschlägig seien. Zwar sei es Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt bis zur Entscheidungsreife aufzuklären. Dies gelte jedoch nicht, wenn die Verwaltung den maßgebenden Sachverhalt für ihre ablehnende Entscheidung nur in einem bestimmten Punkt ermittelt, für die positive Feststellung eines Kindergeldanspruchs jedoch keine weitere Sachverhaltsprüfung vorgenommen habe.
Ebenso verhält es sich im Streitfall. Die Familienkasse hätte für eine der Klägerin günstige Entscheidung unter anderem die Feststellung treffen müssen, dass der Sohn I während des hier streitigen Zeitraums eine der in § 32 Abs. 4 EStG genannten Voraussetzungen erfüllt hat. Nach den dem Gericht vorliegenden Akten ist dies offenkundig nicht geschehen. So führt die Familienkasse in der Einspruchsentscheidung auch aus, es sei nicht geprüft worden, inwieweit die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch vorlägen.
Die Familienkasse wird im Rahmen der von ihr erneut zu treffenden Entscheidung den Sachverhalt in den noch offenen Punkten weiter zu prüfen haben. Eine entsprechende Sachverhaltsermittlung im gerichtlichen Verfahren ist nicht möglich. Denn es ist nicht Sache des Gerichts, die der Familienkasse obliegenden Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen.
Die Entscheidung der Familienkasse könnte in formeller Hinsicht zu den folgenden Alternativen führen: (1) Für den Fall, dass während der Zeit ab Januar 2008 ein Kindergeldanspruch gegeben wäre, hätte die Familienkasse in einem entsprechenden Bescheid klarzustellen, dass die Verfügung vom 09.06.2010 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und die Rückforderung von ausgezahltem Kindergeld nicht wirksam geworden ist. (2) Für den Fall, dass während der genannten Zeit ein Kindergeldanspruch nicht gegeben wäre, hätte sie erneut einen Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab dem Monat Januar 2008 und die Rückforderung des für die Monate Januar 2008 bis August 2009 ausgezahlten Kindergeldes zu erlassen.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens folgen aus § 135 Abs. 1 FGO.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 und § 155 FGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).