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Bindungswirkung einer Lohnsteueranrufungsauskunft durch das Finanzamt

BFH, Az.: VI R 44/12, Urteil vom 17.10.2013

Leitsätze

1. Erteilt das Betriebsstättenfinanzamt dem Arbeitgeber eine Lohnsteueranrufungsauskunft, sind die Finanzbehörden im Rahmen des Lohnsteuerabzugsverfahrens an diese auch gegenüber dem Arbeitnehmer gebunden.

2. Das FA kann daher die vom Arbeitgeber aufgrund einer (unrichtigen) Anrufungsauskunft nicht einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer vom Arbeitnehmer nicht nach § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG nachfordern.

Tatbestand

Bindungswirkung einer Lohnsteueranrufungsauskunft durch das FinanzamtI. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Lohnsteuer-Nachforderungsbescheids zu Lasten des Arbeitnehmers.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Arbeitnehmer der G-GmbH (GmbH). Die GmbH war zunächst Mitglied der Zusatzversorgungskasse (ZVK) der Stadt „E-Stadt“. Mit der Mitgliedschaft verfolgte sie den Zweck, ihren Arbeitnehmern beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis einen zusätzlichen Versorgungsanspruch zu verschaffen. Entsprechend einer am 10. Januar 2001 abgeschlossenen Vereinbarung übernahm die ZVK „L-Stadt“ das Vermögen der ZVK „E-Stadt“. Die bisherigen Mitglieder der ZVK „E-Stadt“ wurden mit Wirkung ab dem 1. Januar 2001 Mitglieder der ZVK „L-Stadt“. Zum Ausgleich der mit der Übernahme der ZVK „E-Stadt“ für die ZVK „L-Stadt“ verbundenen Nachteile hatte die ZVK „E-Stadt“ eine Ausgleichszahlung (sog. Nachteilsausgleich) an die ZVK „L-Stadt“ zu leisten. Sie behandelte die Zahlungen des Nachteilsausgleichs als erhöhte Umlage und erhob Lohnsteuer mit einem Pauschalsteuersatz gemäß § 40b des Einkommensteuergesetzes (EStG). Soweit die Zahlungen die Pauschalierungsgrenze überstiegen, unterwarf die GmbH die entsprechenden Beträge dem Regelbesteuerungsverfahren.

Mit Urteil vom 14. September 2005 VI R 148/98 (BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532) entschied der erkennende Senat, dass die Nachteilsausgleichszahlungen keinen Arbeitslohn darstellten. Im Anschluss an diese Entscheidung beantragte die GmbH beim zuständigen Betriebsstättenfinanzamt „E-Stadt“ eine Anrufungsauskunft nach § 42e EStG, wonach es ihr erlaubt sei, sämtliche zu Unrecht versteuerten Nachteilsausgleichszahlungen der Jahre 2002 bis 2005 im laufenden Lohnsteuerzahlungszeitraum des Jahres 2006 in Form negativer Einnahmen zu korrigieren. Diesem Antrag gab das Betriebsstättenfinanzamt am 29. Juni 2006 statt. Die GmbH machte in der Lohnsteuerabrechnung für September 2006 von der Auskunft Gebrauch und verrechnete die laufenden Bruttoarbeitslöhne ihrer Mitarbeiter mit negativen Einnahmen im Umfang der jeweils auf die Nachteilsausgleichszahlungen abgeführten Lohnsteuer, auch soweit das Jahr 2001 betroffen war. Mit Schreiben vom 20. September 2006 widerrief das Betriebsstättenfinanzamt seine Anrufungsauskunft vom 29. Juni 2006. Die dagegen von der GmbH erhobene Klage war in der Revisionsinstanz erfolgreich. Der Senat hob die Aufhebungsverfügung des Betriebsstättenfinanzamts vom 20. September 2006 mit Urteil vom 2. September 2010 VI R 3/09 (BFHE 230, 500, BStBl II 2011, 233) auf.

Am 21. November 2008 erhielt der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) als Wohnsitzfinanzamt des Klägers eine Kontrollmitteilung der Zentralen Außenprüfungsstelle Lohnsteuer (ZALSt). Die ZALSt informierte das FA darüber, dass die GmbH als Arbeitgeber des Klägers im Lohnsteuerzahlungszeitraum September 2006 den Bruttoarbeitslohn des Klägers um 4.082,63 EUR gemindert habe. Die GmbH sei unzutreffenderweise davon ausgegangen, dass in dieser Höhe negativer Arbeitslohn des Klägers vorgelegen habe. Bei dem Betrag handele es sich um die Summe der in den Jahren 2001 bis 2005 auf den Kläger entfallenden und individuell versteuerten Nachteilsausgleichszahlungen der GmbH an die ZVK „L-Stadt“.

Das FA erließ daraufhin gegenüber dem Kläger, der mangels Antrag im Streitjahr nicht zur Einkommensteuer veranlagt worden ist (§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG), unter dem Datum 12. Dezember 2008 einen Bescheid über die Festsetzung von nachzufordernder Lohnsteuer sowie von nachzuforderndem Solidaritätszuschlag. Der Lohnsteuernachforderungsbetrag wurde auf 1.154 EUR und der Solidaritätszuschlag auf 63,47 EUR festgesetzt. Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 1781 veröffentlichten Gründen ab.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Er beantragt, das Urteil des FG Düsseldorf vom 24. April 2012  13 K 799/09 L sowie den Bescheid über die Festsetzung von nachzufordernder Lohnsteuer sowie von nachzuforderndem Solidaritätszuschlag vom 12. Dezember 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5. Juni 2009 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Der angefochtene Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid sowie die dazugehörige Einspruchsentscheidung sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Sie waren daher gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben.

1. Nach § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG kann das FA den Arbeitnehmer als Schuldner der Lohnsteuer in Anspruch nehmen, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig angemeldet hat (zu § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG als „Anspruchs-grundlage“ vgl. Senatsentscheidung vom 13. Januar 1989 VI R 153/85, BFHE 156, 99, BStBl II 1989, 447; FG München, Urteil vom 15. Mai 2003  11 K 2986/02, EFG 2003, 1281; Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz D 5, D 7; Wagner, in Heuermann/Wagner, Lohnsteuer J Rz 131; Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer, Nachforderung von Lohnsteuer Rz 31, 35).

a) Nach § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG ist der Arbeitnehmer Schuldner der Lohnsteuer. Nicht einbehaltene und nicht abgeführte Lohnsteuer kann deshalb von der Finanzbehörde grundsätzlich von ihm nachgefordert werden, und zwar auch dann, wenn das Kalenderjahr abgelaufen ist (Schmidt/Krüger, EStG, 32. Aufl., § 42d Rz 22; Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz D 7; Wagner, a.a.O., Lohnsteuer J Rz 132). Denn der Lohnsteueranspruch erlischt nicht, wenn die Einkommensteuer nach Ablauf des Kalenderjahres gemäß § 36 Abs. 1 EStG entsteht (Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 22; Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz D 7; Wagner, a.a.O., Lohnsteuer J Rz 132). Allerdings ist der Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid auch in diesem Fall ein Vorauszahlungsbescheid, sofern das FA –wie vorliegend– lediglich die Lohnsteuer des fehlerhaften Abführungszeitraums festsetzt (Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 22).

b) Zugleich haftet der Arbeitgeber nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für nicht einbehaltene und nicht abgeführte Lohnsteuer. Soweit diese Haftung reicht, sind der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer Gesamtschuldner (§ 42d Abs. 3 Satz 1 EStG). Das Betriebsstättenfinanzamt kann die Steuerschuld oder Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs. 3 Satz 2 EStG). Allerdings kann der Arbeitnehmer nach § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG für seine Lohnsteuer als (Gesamt)Schuldner neben dem Arbeitgeber nur in bestimmten Fällen in Anspruch genommen werden, etwa wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 2011 VI R 61/09, BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479).

c) An einer vorschriftswidrigen Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer fehlt es, wenn der Arbeitgeber eine Anrufungsauskunft eingeholt hat und danach verfahren ist. In einem solchen Fall kann ihm nicht entgegengehalten werden, er habe die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig einbehalten. Das gilt unabhängig davon, ob die Anrufungsauskunft materiell richtig oder unrichtig ist (Senatsurteil vom 16. November 2005 VI R 23/02, BFHE 212, 59, BStBl II 2006, 210, m.w.N.; Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 3 und § 42e Rz 8 f.). Ist der Arbeitgeber entsprechend einer Anrufungsauskunft verfahren, hat er den „Weisungen und Vorschriften“ des Auftrag gebenden Finanzamts Rechnung getragen und damit die Lohnsteuer vorschriftsmäßig einbehalten und abgeführt (Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 3). Der Haftungstatbestand ist in diesen Fällen nicht erfüllt (Senatsurteil in BFHE 212, 59, BStBl II 2006, 210, m.w.N.; Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42d Rz 3; Blümich/Wagner, § 42d EStG Rz 51; Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42d Rz B 1; Gersch in Herrmann/Heuer/Raupach, § 42e EStG Rz 24).

d) Überdies führt die ordnungsgemäße Abführung der auskunftsgemäß einbehaltenen Lohnsteuer zum Erlöschen des Lohnsteueranspruchs des FA (§ 47 der Abgabenordnung –AO–). Der Arbeitnehmer (Steuerschuldner) kann damit nicht mehr auf Zahlung der Lohnsteuer in Anspruch genommen werden, und zwar auch dann nicht, wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer aufgrund einer materiell unrichtigen Lohnsteueranrufungsauskunft einbehalten und abgeführt hat. In einem solchen Fall wird zwar nicht die Einkommensteuerschuld, aber die Lohnsteuerschuld i.S. des § 38 Abs. 2 EStG des Arbeitnehmers wie auch die Entrichtungsschuld des Arbeitgebers durch das Finanzamt im Wege der Anrufungsauskunft verbindlich festgestellt. Es kann daher die vom Arbeitgeber aufgrund einer unrichtigen Anrufungsauskunft nicht einbehaltene und abgeführte Lohnsteuer vom Arbeitnehmer nicht nach § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG nachfordern (Blümich/ Heuermann, § 42e EStG Rz 31; Seer in Tipke/Kruse, § 89 AO Rz 109; Wagner, a.a.O., Lohnsteuer K Rz 32). Denn die Finanzbehörden sind zwar nicht im Veranlagungsverfahren, aber im Rahmen des Lohnsteuerabzugsverfahrens und damit des Vorauszahlungsverfahrens (vgl. Senatsurteil in BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479, m.w.N.) auch gegenüber dem Arbeitnehmer gebunden (Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42e Rz B 13; Dißars, Die Information für Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (INF) 2003, 862 <865>; Blümich/Heuermann, § 42e EStG Rz 38; Schmidt/Krüger, a.a.O, § 42d Rz 24 bis zum Abschluss des Lohnsteuerabzugsverfahrens; a.A. Eisgruber in Kirchhof, EStG, 12. Aufl., § 42e Rz 6 f.; Frotscher in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 42e Rz 23). Die Frage nach der Anwendung der lohnsteuerrechtlichen Vorschriften ist einheitlich zu beantworten (Trzaskalik, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42e Rz B 13; Blümich/Heuermann, § 42e EStG Rz 31; Wagner, a.a.O., Lohnsteuer K Rz 32). Ob die Anrufungsauskunft nach § 42e EStG insoweit als Verwaltungsakt mit Drittwirkung zu beurteilen ist, braucht der Senat hierbei nicht zu entscheiden (so Drenseck, Verwaltungsakte im Lohn- und Einkommensteuerverfahren, in Stolterfoht, Grundfragen des Lohnsteuerrechts 1986, 377, <396>; Schmidt/Krüger, a.a.O., § 42e Rz 9; Dißars, INF 2003, 862 <865>; Blümich/Heuermann, § 42e EStG Rz 31; Seer, a.a.O., § 89 AO Rz 109). Jedenfalls kann sich der Arbeitgeber auf eine dem Arbeitnehmer erteilte Auskunft berufen und umgekehrt (Trzaskalik, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 42e Rz B 13; Dißars, INF 2003, 862 <864 f.>; Blümich/Heuermann, § 42e EStG Rz 31; Seer, a.a.O., § 89 AO Rz 109). An der gegenteiligen Auffassung, nach der das FA nicht gehindert ist, im Lohnsteuerverfahren dem Arbeitnehmer gegenüber einen anderen, ungünstigeren Rechtsstandpunkt zu vertreten als im Auskunftsverfahren gegenüber dem Arbeitgeber (Senatsbeschluss vom 22. Mai 2007 VI B 143/06, BFH/NV 2007, 1658), hält der Senat nicht fest. Denn das dem Arbeitnehmer eingeräumte Antragsrecht wäre ansonsten praktisch wertlos. Arbeitgeber und Arbeitnehmer wären gezwungen, jeweils einen gemeinsamen Antrag nach § 42e EStG zu stellen (Seer, a.a.O., § 89 AO Rz 109).

2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen nicht. Vielmehr steht der streitigen Lohnsteuernachforderung die dem Arbeitgeber des Klägers am 29. Juni 2006 im Rahmen des Lohnsteuerabzugs erteilte Anrufungsauskunft entgegen (vgl. Senatsurteil in BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479). Denn das Nachforderungsverfahren ist die Fortsetzung des Lohnsteuerabzugsverfahrens (Drenseck, Verwaltungsakte im Lohn- und Einkommensteuerverfahren, in Stolterfoht, Grundfragen des Lohnsteuerrechts 1986, 377, <424>).

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